Was ist eine Stadt? Einleuchtende Antworten gibt es in Richard Sennetts Buch „Fleisch und Stein“, Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich selbstverständlich auch auf die Grösse der jeweils beschriebenen Städte beziehen. Athen hatte in der Antike Weltgeltung, obwohl diese Polis im Vergleich zu heutigen Metropolen geradezu klein war. Eine Weltgeltung haben heute New York oder Honkong (um nur zwei berühmte Orte zu nennen), und Sennett zeichnet das Leben in den Megagebilden nach, geht dabei auf die Zentren und die Peripherie ein, diese Differenzierung ist wichtig, er beschreibt urbane Situationen, ebenso aber auch die Armut in den städtischen Molochen. Die mächtigen Ausmasse einer Stadt bringen nicht nur Vorteile.
Wenn jemand Zug als nicht-städtisch bezeichnet, hat er vielleicht bei der Wortwahl danebengegriffen. Zur Auswahl stehen etliche Bezeichnungen und Umschreibungen, beispielsweise die Urbanität, die Weltbezogenheit eines Ortes, die kulturellen und die sozialen Einrichtungen, die Rolle der Wirtschaft.
Als ich mich für diesen dritten kleinen Text an den Schreibtisch gesetzt habe, hatte ich vor, unterschiedliche Quartiere in Zug zu beschreiben, um hervorzuheben, dass ein Ort, der gebietsweise, bezirksweise, quartierweise verschiedene Stimmungen und Grundzüge aufzeigt, unbedingt eine wirkliche Stadt ist, und die Grundstimmungen in Zug – man könnte auch vom Ambiente reden – wechseln immer wieder. Die Altstadt, die neuere, gewachsene Vorstadt, das Metalli-Zentrum, das Wohngebiet nördlich von Metalli haben je eine eigene Prägung, und dann habe ich von der Hanglage mit einigen Hotels und den weitgehend stimmigen Wohnhäusern noch nichts gesagt. Ausserdem sollte ich die Alpenstrasse erwähnen, die vom Bahnhof direkt zum See führt, vorbei an guten Konditoreien und an jener Kirche, die sicher nicht nur bei mir Erinnerungen weckt.
Erinnerungen wecken. Das ist vielleicht das wichtigste Stichwort. Erinnerungen mit unterschiedlichen Prägungen in unterschiedlichen Quartieren und Winkeln eines Ortes. Unangenehme, üble, willkommene, glückliche, erhellende Bilder, die wiederbelebt werden. Aus solchen Bildern besteht (nicht nur die europäische) Weltliteratur und nicht nur die Literatur, sondern auch das persönliche Erleben, und daher doch auch die Literatur (das Theater, die Bildende Kunst) über London, Paris, New York, New York und so weiter.